111 Jahre Selbsthilfe in Hamburg

Eine historische Abbildung vom Holsteinischen Kamp 26. Am Gebäude hängt ein Transparent mit dem damaligen Vereinsnamen "Blindenverein Hamburg e.V. - Das Louis-Braille-Haus". Das Bild stammt aus dem jahr 1988

Foto: © BSVH

Der Verein im Nationalsozialismus

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten veränderte sich der gesamte Verein.

1934 wurde die Satzung das erste Mal den neuen politischen Gegebenheiten angepasst. Die Mitglieder mussten nun deutschstämmig sein und der Vorstand konnte ein Mitglied ausschließen, wenn es „den nationalsozialistischen Grundsätzen zuwiderhandelt“. (1)
Der Vorstand wurde nicht mehr von den Mitgliedern gewählt, sondern vom RBV ernannt oder abberufen. Emil Meissel wurde nun zum ersten Vorsitzenden ernannt.

1940 wurde die Satzung ein weiteres Mal geändert. Der Zweck des Vereins war nun:

„ (…) geistige Förderung und Ausrichtung im Sinne nationalsozialistischer Weltanschauung und körperliche Ertüchtigung der Blinden.“ (2)

Wie ein Schreiben des Amtsgerichts Hamburg an die geheime Staatspolizei vom 7. Mai 1940 belegt, musste diese Satzungsänderung von der Gestapo genehmigt werden.
Die Situation der blinden Menschen verschlechterte sich in vielen Bereichen.

  • Die mühsam erkämpfte Freifahrt im öffentlichen Nahverkehr wurde eingeschränkt
  • An ein Blindengeld war nicht mehr zu denken, es verschwand in der Zeit vollkommen von der Agenda des Vereins
  • Die Bitte, den weißen Stock als Verkehrsschutzzeichen einzuführen, wurde abgelehnt.
  • Der gemeinsame Ausschuss, in dem Vertreter der Wohlfahrtsbehörde, der Blindenanstalten und der Selbsthilfeorganisationen angehörten, wurde aufgelöst.

Stattdessen wurde ein Blindenfürsorger eingestellt, der nun die Schaltstelle zwischen dem Staat und dem Verein war. Es war Emil Meissel, der gleichzeitig auch der 1. Vorsitzende des Vereins war.
Eine der wenigen Vergünstigungen war, dass Meissel die Mitglieder mit Radios versorgen konnte.

Was für viele Mitglieder aber zunächst durchaus positiv erschien, war die Arbeitssituation. Die sogenannte Arbeitsfürsorge war der neue Schwerpunkt des Vereins. Der Verein

  • bildete Stenotypisten aus
  • bemühte sich in diesem Zusammenhang um Hilfsmittel
  • verschaffte einzelnen Mitgliedern Arbeitsstellen
  • betrieb intensive Öffentlichkeitsarbeit, um die Gesellschaft von der Leistungsfähigkeit blinder Menschen zu überzeugen

In diesem Bereich gab es scheinbar die größte Kontinuität mit den Zielen der Gründer, doch auch hier wird deutlich, dass blinde Menschen trotz aller Erfolge in der Defensive blieben. Man musste beweisen, dass man nicht völlig wertlos war, die eigene Existenz rechtfertigen. Das ursprüngliche Ziel wurde der nationalsozialistischen Propaganda angepasst.

Emil Meissel schrieb 1939 in seiner Festschrift „30 Jahre Blindenverein für das Hamburgische Staatsgebiet“:

„Mit besonderer Dankbarkeit aber erkennt der Blindenverein an, daß der Nationalsozialismus den Blinden in die große deutsche Volksgemeinschaft aufgenommen hat. Er betrachtet es aber seinerseits auch als Ehrenpflicht, dafür Sorge zu tragen, daß alle einsatzfähigen Blinden die ihnen verbliebenen Kräfte jederzeit, besonders aber in Zeiten der Gefahr, dem Vaterland zur Verfügung stellen. In diesem Sinne hat sich der Blindenverein für das hamburgische Staatsgebiet mit der Leitung des Luftschutzes darüber verständigt, inwieweit Blinde im Rahmen des Luftschutzes als Telefonisten, Stenotypisten und Funker zu beschäftigen sind. Außerdem wurden dabei technische Möglichkeiten erörtert, die den sich an das Dunkel gewöhnten Blinden zu ganz besonderer Einsatzfähigkeit im Luftschutz zu befähigen.
So zeigt sich, daß die Blinden mehr und mehr zu vollwertigen Mitgliedern der deutschen Volksgemeinschaft werden und – wenn der Führer ruft, sind sie bereit.“ (3)

Darüber hinaus bemühte sich der Verein noch um gesellige und kulturelle Aktivitäten.

Auch hier wurde der Verein von den Nationalsozialisten für politische Zwecke instrumentalisiert. Es gab viele Vorträge zu Themen wie „Das Wesen des Nationalsozialismus“, „Volk und Führer, Führer und Volk“ und zu Erbgesundheitsfragen.
Es gab aber auch einen Festausschuss, der Theaterkarten organisierte und viermal im Jahr Wanderungen organisierte.

Insgesamt wissen wir über diese Zeit sehr wenig. Das Vereinshaus in der Schröderstraße wurde 1943 ausgebombt, damit wurden sämtliche Protokolle vernichtet.
Es gibt im Amtsgericht die Satzungen und teilweise auch Schreiben, die sich auf diese Satzungen beziehen.
Des Weiteren gibt es noch die Festschrift des Herrn Meissel, der einerseits eingesetzter erster Vorsitzender war und gleichzeitig bei der Behörde angestellter Sozialarbeiter.
Auffallend ist, dass es im Staatsarchiv nur sehr wenig Unterlagen gab. Aus den ersten Jahren (1909 bis 1933) habe ich sehr viele Briefe gefunden, die der Verein an die Hamburger Behörden geschrieben hat, es waren Forderungen und Bitten um Unterstützung und Rechtssicherheit in unterschiedlichen Bereichen. (Bildung, Freifahrtscheine, Blindengeld etc.). Danach hörten diese Forderungen auf. Wir haben ein formloses Schreiben aus einer Behörde aus dem Jahr 1934 gefunden. Darin heißt es:

„Der Blindenverein weiß, daß seitens des Fürsorgewesens alles geschieht, was nach Lage der allg. Verhältnisse für die Blinden zu erreichen ist, und daß sich die in der Denkschrift erhobenen Forderungen zurzeit entweder gar nicht oder nur schrittweise erfüllen lassen werden. Der Blindenverein wird sich bei weiteren Wünschen der Vermittlung des Herrn Meißel bedienen.“ (4)

Aus diesen wenigen Dokumenten können wir den Rückschluss ziehen, dass der Verein und seine Mitglieder massiv unter Druck standen und praktisch keine Einflussmöglichkeiten hatte. Wie der Verein sein Vereinsleben im Alltag gestaltete, wissen wir nicht, zumal dies auch in den Jahren danach, als noch viele Zeitzeugen lebten, nicht offiziell thematisiert wurde.