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Über Menschen mit Behinderung berichten

Wie berichtet man über Menschen mit Behinderung ohne die gängigen Klischees von Menschen zu bedienen, die heldenhaft ihr Leben meistern oder Opfer ihrer Einschränkungen sind? Dieser Frage stellten sich am Dienstag, den 19. Juli Journalisten und Journalistinnen des NDR in Hamburg. Raúl Krauthausen und Lilian Masuhr vom Verein Sozialhelden erklärten gemeinsam mit Heiko Kunert, Geschäftsführer des Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg e.V. (BSVH), worauf es dabei ankommt. Eingeladen hatte die Redaktion „Barrierefreie Angebote im Programmbereich Online und Multimedia“ des NDR. Martin Dittler, Vertreter der Redaktion, erklärte die Intention: „Der NDR engagiert sich im Bereich Barrierefreiheit seit Jahren und hat seine Angebote hierzu deutlich ausgebaut. Dazu gehört auch eine formal richtige Berichterstattung“, so Dittler. „Wir erhoffen uns, dass die Berichterstattung über Menschen mit Behinderung grundsätzlich besser wird und negative Beispiele, wie wir sie auch hier im Workshop erleben, weniger werden.“

Raúl Krauthausen berät als Betroffener und Aktivist seit vielen Jahren Journalisten in diesen Fragen und gründete zu diesem Zweck gemeinsam mit anderen behinderten und nicht behinderten Medienschaffenden, unter anderem Lilian Masuhr, die Plattform Leidmedien. Die beiden Berliner brachen in ihrem Vortrag Stereotypen auf und zeigten anhand von praktischen Beispielen, wie Medienarbeit auf Augenhöhe funktioniert. „Die drei wesentlichen Aspekte für eine gute Berichterstattung über behinderte Menschen sind: Wie vielfältig ist das Team, wie vielseitig der Inhalt und wie barrierefrei die Aufbereitung der Beiträge“, erklärt Krauthausen. Interviewt ein behinderter Journalist beispielsweise einen behinderten Sportler, gewinnt ein Beitrag an Authentizität. Er scheut sich auch weniger davor, seinem Interviewpartner kritische Fragen zu stellen. Ein wichtiger Punkt, wie die Diskussion mit den Teilnehmern des Workshops zeigte. Einige gestanden hierbei ein, im Umgang mit behinderten Menschen auch Hemmungen zu haben.

Sabine Klein, stellvertretende Redaktionsleiterin der Onlineredaktion des NDR, ndr.de: „Wenn man zuhört, wie die Referenten manche Berichte empfinden, sich also auf das Thema einlässt, merkt man, dass es eine Sache des Perspektivwechsels ist“, schlussfolgerte sie. „Man merkt, dass man auch „Fehler macht“, weil man nicht über die Perspektive nachdenkt, aus der man berichtet.“

Meibrit Ahrens, verantwortliche Redakteurin der täglichen Nachmittagsserie „Rote Rosen“ in der ARD, also einem fiktionalem Format, war ebenfalls Teilnehmerin des Workshops. Sie erhoffte sich wichtige Impulse, um Geschichten mit behinderten Protagonisten zu erzählen, da ein Schwerpunkt ihres Formates ist, Gesellschaftsbilder aufzuzeigen. „Die Darstellung von Behinderungen ist dabei nicht unkompliziert, weil die Leute zu häufig auf die Behinderung reduziert werden und das Menschsein, was dahinter steht und das eigentlich interessante ist, zu kurz kommt“, erklärte sie. „Für so ein Unterhaltungsformat, das ich ja betreue, suche ich einen kompatiblen Weg, um eine Geschichte mit einem behinderten Protagonisten zu erzählen.“

Die Referenten wiesen aber auch darauf hin, dass es einen barrierefreien Zugang zur Ausbildung geben muss, um beispielsweise blinden oder gehörlosen Journalisten einen Einstieg in diesen Beruf zu ermöglichen. Damit behinderte Menschen einen solchen Beitrag dann auch erleben können, gehört die Aufbereitung in barrierefreien Formaten als dritter Aspekt zu einer gleichberechtigten Berichterstattung über behinderte Menschen dazu.

Heiko Kunert vom BSVH veranschaulichte ebenfalls an Beispielen, dass es sehr gute Beiträge zum Thema gibt. Trotzdem erreichen auch den BSVH immer wieder Medienanfragen, die anhand ihrer Formulierungen bereits auf eine reißerische Annäherung an das Thema schließen lassen. Kunert machte deutlich, dass die Berichterstattung zugunsten einer „Heldengeschichte“ nicht unbedingt die Lebenswirklichkeit widerspiegelt. „Für Medienbeiträge werden meist explizit blinde, möglichst junge Protagonisten angefragt“, erklärte er. „Die deutliche Mehrheit der Menschen mit Seheinschränkungen in Deutschland ist jedoch sehbehindert und über 60.“ Schätzungen zufolge leben bis zu 150.000 blinde Menschen, hingegen bis zu 1 Million Menschen mit einer Sehbehinderung in Deutschland. Auch erklärt er die unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Menschen. Sie hängt davon ab, ob sie früh erblinden oder erst in hohem Alter von einer Seheinschränkung betroffen sind. Hier handelt es sich meist um Menschen, deren Sehbehinderung aufgrund einer altersbedingten Augenerkrankung eintritt.

Heiko Kunert zog ein positives Fazit der Veranstaltung: „Ich freue mich über das Interesse der anwesenden Journalisten und Journalistinnen, aber es ist schade, dass nur wenige Kollegen aus dem berichtenden Redaktionen anwesend waren. Ich würde mich freuen, wenn wir den Workshop mit Vertretern der jeweiligen NDR-Redaktionen wiederholen,“ so Kunert. Wichtig war den Referenten des Workshops am Ende, Barrieren in den Köpfen abzubauen und einen Umgang ohne Hemmungen zu fördern. Raúl Krauthausen brachte es in seinem Vortrag so auf den Punkt: „Wir sollten uns alle endlich einmal locker machen und uns gegenseitig nur als Menschen sehen“.

Ansprechpartner

Melanie Wölwer

Pressesprecherin

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Porträtbild von Melanie Wölwer

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